“Dance (Praticable)- Gruppenversion” ist ein Tanzstück mit 9 Tänzern. Ich habe es am 23.10.08 in den Berliner Sophiensälen gesehen. An diesem Tag war eine der Tänzerinnen erkrankt, also nur acht Personen auf der Bühne. Das Stück dauert ungefähr eine Stunde. Während des ganzen Stückes werden alle Bewegungen und Abläufe von allen Tänzern gemeinsam, wenn auch nicht synchron, durchgeführt. Getanzt wird in der Gruppe, nicht einzeln. Es wird allerdings auch nicht miteinander getanzt, sondern eher nebeneinander.
So entsteht auf der Bühne eine merkwürdige Gruppe, die als Kollektiv durch das Nebeneinander der Tänzerinnen unwirklich bleibt, die aber durch die gemeinsamen Bewegungen der Tänzer auch nicht ignoriert werden kann. So – wie Yves Mettler im Publikumsgespräch danach bemerkte – oszilliert der Blick zwischen der Gruppe und den einzelnen Tänzerinnen und kann nie so ganz bei dem einen oder dem anderen verharren. Denn auch die einzelnen Tänzer verlangen Aufmerksamkeit. Die Choreographie durchlaufen zwar alle gemeinsam, aber auch sehr individuell: Runde Bewegungen, eckige Bewegungen, tanztrainierte Bewegungen, fließende Bewegungen – jede der Tänzer hat einen eigenen Stil – ihren eigenen Stil, der eher betont als in der Gruppe versteckt wird. Auf die Unterschiede kommt es an.
Aber die Tänzerinnen scheinen sich weder auf die Gruppe noch auf das Publikum zu konzentrieren, sondern vor allem auf sich selbst. Die Choreographie, die sie tanzen, wirkt fast wie die unbeabsichtigte Konsequenz eines Prozesses, der in den Tänzern stattfindet, und den der Zuschauer nicht sieht und nicht sehen kann.
Eine ähnliche innere Konzentration ist der Grund, warum ich Musikerinnen so gerne beim Spielen zuschaue. Gespielt wird für das Publikum, aber die Bewegungen – die eigentliche Performance sozusagen – ist nur Mittel zum Zweck, der darin besteht, Musik zu machen.
Eine solche Zweckmäßigkeit, die sich nicht in sich selbst erschöpft, strahlen auch die Tänzer bei “Dance” aus – und unterscheiden sich darin von allem, was ich bisher auf einer Tanzbühne gesehen habe. Hier wird nicht getanzt, um schön zu tanzen, hier wird getanzt und nebenbei entsteht schöner, energetischer, mitreißender Tanz.
Aber nicht nur die Haltung der Tänzerinnen bei Dance ist musikalisch, auch die Choreographie als solche ist es. Für mich zerfällt die Choreographie bei “Dance” in drei große Abschnitte: vor, während und nach der Musik. Der erste Teil – vor dem Einsetzen der Musik – hat den Charakter eines Workouts oder Trainings. Aus dem Dehnen, Rennen, verschiedenen Tanzbewegungen und Atmen jedes einzelnen Tänzers für sich ergibt sich für den Zuschauer eine Choreographie.
Sobald die Musik einsetzt, transformiert sich dieses Training in Diskotanz. Bewegungen und Sequenzen aus dem Workout sind wieder erkennbar, aber passen wie selbstverständlich zur Struktur der Popmusik, zu der nun getanzt wird.
Irgendwann ist die Musik zu Ende, aber die Choreographie geht weiter – jetzt aber nicht mehr als Workout sondern als Bühnentanz. Nicht das sich die Qualität der Bewegungen der Tänzerinnen stark verändert hätte, aber die Musik hat dem Bühnengeschehen einen neuen Aspekt hinzugefügt, der auch mit ihrem Ende nicht wieder verschwindet.
“Dance” ist für mich das musikalischste Tanzstück, das ich bisher gesehen habe. Nicht weil die Musik außergewöhnlich war, oder weil der Tanz die Musik außergewöhnlich interpretiert, sondern weil dem Dualismus von Musik und Tanz etwas Drittes hinzugefügt wurde – jene innere Zweckmäßigkeit der Tanzbewegungen – und vor dem Hintergrund dieser nicht-musikalischen und nicht-tänzerischen Zweckmäßigkeit gelingt es den Tänzern in “Dance”, die Verhältnisse von Tanz und Musik zum Tanzen zu bringen.
“Dance – Gruppenversion” (Choreografie und Tanz: Alice Chauchat, Frédéric de Carlo, Frédéric Gies, Sarah Menger, Ulrike Melzwig, Christian Modersbach, Petra Sabisch, Isabelle Schad, Odile Seitz) wird das nächste Mal im Rahmen der Tanznacht Berlin gezeigt. Unbedingt hingehen!
Nur der Vollständigkeit halber und weil es auch während des Publikumsgesprächs einige Auseinandersetzung darum gegeben hat, wäre noch zu erwähnen, dass das Dritte – also der Zweck auf den sich die Tanzbewegungen zuerst beziehen, Body Mind Centering ist.
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