1. Quellen, Historisches, konzeptueller Rahmen

Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Lektüre der sieben als authentisch geltenden Briefe des Paulus, gelesen in der Neuen Genfer Übersetzung, die eine deutliche Distanz zum Lutherdeutsch anderer Bibelübersetzungen herstellt und mich beim Lesen daher weniger mit Traditionen und Erinnerungen an meine evangelische Bildung belastet hat. Die deutlichsten Worte zu seiner Theologie formuliert Paulus bekanntlich im Römerbrief, und so ist dieser auch Schwerpunkt der folgenden Analyse. Ich verzichte auf Zitate und Fußnoten, weil die bearbeitete Textmenge klein ist und ich auch nicht vor habe, mich in eine theologische Debatte einzuordnen.

St Paulus

Der Apostel Paulus beim Schreiben. Aus einer Handschrift der Paulusbriefe, frühes 9. Jahrhundert.

Paulus’ Theologie entsteht in unmittelbarer Erwartung der Wiederkehr des Christus (übersetzt: der Gesalbte, und bedeutet Messias). Die “Zeit die bleibt” nutzt Paulus um möglichst vielen Menschen die Nachricht vom Opfertod des Christus zu bringen. Nach seinem Bekehrungserlebnis auf der Straße nach Damaskus versteht Paulus seine Aufgabe explizit als eine Verkündungsaufgabe, und nicht als Überzeugungsarbeit. Denn erst der Glaube an den Christus lässt seinen Opfertod nicht als eine widersinnige Handlung Gottes erscheinen. Der Glaube aber ist eine göttliche Gabe, die nicht durch menschliche Arbeit, sondern nur durch die Gnade Gottes erlangt werden kann. Es ist also unmöglich, jemand von Christus zu überzeugen. Die Gnade Gottes ist neben der unmittelbar zu erwartenden Wiederkehr des Christus das Zentrum der Theologie des Paulus.
Die Wiederkehr des Christus nennt Paulus das Ende, und außer dass es durch einen göttlichen Posaunenstoß angekündigt wird, entwickelt er keine Neugier oder Vorstellung in Bezug auf den konkreten Ablauf des Endes. Mit dem Ende ereilt alle, die nicht an den Christus glauben der Tod (eine Hölle oder ähnliches malt Paulus aber nicht aus), diejenigen die im Glauben an den Christus gestorben sind, werden zu ewigem Leben auferstehen und auch diejenigen, die zum Zeitpunkt des Endes noch leben, erben als Träger des göttlichen Geistes und Kindes Gottes das ewige Leben.

Außer Paulus’ Briefen haben die Gemeinden, die er gründet, zuerst keine weiteren schriftlichen Zeugnisse oder Dokumente über Leben und Tod des Christus. Paulus erwähnt auch keine Vorhaben, die Geschichte Jesu’ schriftlich festzuhalten. Ihn interessieren Details aus dem Leben Jesu’ sowieso erstaunlich wenig. Das gemeinsame Essen in den Gemeinden als Ritual ist ihm wichtig und so zitiert er die Abendmahlformel in einem seiner Briefe als Worte Jesu’. Des weiteren bezieht es sich vielfach auf Jesu’ Gebot der Nächstenliebe. Weitere Zitate finden sich nicht. Dieser Mangel an Bezug auf Jesus und das fehlende Interesse an einer Kodifizierung der Erzählung vom Leben Jesu’ sind wohl nur in Hinblick auf eine sehr lebendige Erzählung über Jesus und auf das nahe Ende verstehbar.

Paulus eigentliches theologisches Interesse ist auf die Herleitung der Gnade Gottes als einzigem Pfad zur Gerechtigkeit bzw. zur Errettung aus der Thora und aus dem Opfertod des Christus gerichtet. Infolge dessen sind seine Briefe mit Verweisen v.a. auf Abraham und Moses und mit Zitaten v.a. aus Jesaja gespickt.

2. Die Gemeinden des Paulus

Paulus’ Briefe dienen überwiegend der Schlichtung von Auseinandersetzungen in den von ihm gegründeten Gemeinden und haben meistens sehr konkrete, geradezu prosaische Anlässe. Paulus gibt nicht viele Handlungsanweisungen bzw. -empfehlungen. Grundlegendes Prinzip des Gemeindelebens soll die Nächstenliebe sein. Fast alle anderen Empfehlungen werden von diesem Prinzip abgeleitet.
Darüber hinaus hat Paulus Hinweise zum Umgang der Gemeindemitglieder mit der Obrigkeit, zum Verhältnis von Männern und Frauen, sowie zum Verhältnis von Juden und Nicht-Juden in den Gemeinden.

Bekanntlich empfiehlt Paulus, die staatliche bzw. weltliche Ordnung nicht in Frage zu stellen, und auch nicht zu versuchen, die eigene gesellschaftliche Stellung mit aller Macht zu verändern. Wer Sklave ist und Gelegenheit hat, sich zu befreien, soll das tun. Wer reich ist, soll freigiebig sein, aber darin erschöpfen sich seine auf materiellen Ausgleich gerichteten Empfehlungen. Wie Jacob Taubes aber bemerkt, ist das vor dem Hintergrund der Naherwartung des Endes so zu interpretieren, dass der Kampf gegen staatliche Institutionen schlicht nicht mehr lohnt, wenn die göttliche Intervention sie so bald so vollständig zerschlägt.

Zum Verhältnis von Frauen und Männern hat Paulus widersprüchliches zu sagen. Die Frau sei vom Manne gemacht, und der Mann im Ebenbild Gottes. Die Frau soll in den Gemeinden schweigen (insbesondere bezogen auf prophetisches Reden und Regen in Zungen). Aber auch die Frau gehöre dem Manne und der Mann der Frau. Feministische Positionen vertritt er also sicher nicht, aber er macht die Frauen auch nicht unsichtbar, wie in der römischen Antike sonst nicht unüblich. Von Heiraten rät er beiden Geschlechtern ab, so sie denn keusch sein können, dies ebenfalls in Hinblick auf das nahe Ende. Wer allerdings nicht keusch sein könne, dürfe ruhig heiraten. Darüberhinaus sind die sexuellen Moralvorstellungen der Gesellschaft schon auf Grund der Nächstenliebe zu wahren.

Das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden in den Gemeinden liegt Paulus besonders am Herzen. Laut Jacob Taubes hat er seine Gemeinden vermutlich im Umfeld der Synagogen der griechischen Antike gegründet und dort sowohl Juden als auch jene angesprochen, die die Synagogen als Gotteshäuser aufsuchten, ohne jüdisch zu sein (sog. Sebomenoi – Menschen monotheistischen Glaubens, die aber nicht alle jüdischen Gesetze befolgten). Die ersten Christus-Gläubigen waren aber wie Jesus jüdisch und den jüdischen Gesetzen verpflichtet und so entwickelten sich über die Befolgung dieser Gesetze in der Gemeinde Konflikte. Paulus’ Lösung ist “salomonisch”. Die Juden sollen weiterhin die Gesetze befolgen, die Heiden seien aber davon frei, weil der Tod des Christus alle Menschen von der Erbsünde befreit hatte. Im gemeinsamen Essen, wie überhaupt im gesellschaftlichen Umgang ob innerhalb der Gemeinde oder mit Aussenstehenden, verlange aber das Gebot der Nächstenliebe, dass Speisen und Getränke so zubereitet würden, dass alle davon essen könnten. Die Frage des gemeinsamen Essens war auch Thema der Auseinandersetzung des Paulus mit Petrus und den anderen Führern der Christus-gläubigen Juden in Jerusalem. Den in dieser Auseinandersetzung erzielten Formelkompromiss deutete Paulus militant als Gebot zum gemeinsamen Essen (d.h. Abendmahl) und er kritisierte Petrus’ Zurückhaltung in dieser Hinsicht scharf.

3. Die Theologie

Im Angesicht des nahen Endes ist für Paulus die zentrale theologische Frage, wie Menschen errettet werden, gerecht werden bzw. zum ewigen Leben kommen (so drei von Paulus verwendete synonyme Begriffe). Und Paulus antwortet: Nur durch Gottes Gnade, nicht durch das Gesetz. Bis der Christus durch seinen Opfertod die auf Adam zurückgehende Erbsünde der Menschen abgelöst und einen neuen göttlichen Bund mit den Menschen bewirkt hatte, war der Weg der Errettung den Juden als auserwähltem Volk vorbehalten und bestand in der kollektiven (?) Befolgung der mosaischen Gesetze. (Soweit mir bekannt existiert das Konzept einer individuellen Errettung im jüdischen Glauben nicht.)

Die Ablösung der Erbsünde durch den Christus befreit die Menschen von der Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze, aber nur die Gnade Gottes kann nun die Menschen – aber jeden einzelnen von ihnen, unabhängig ob jüdisch oder nicht – erretten. Die Gnade Gottes macht sich in den Menschen so bemerkbar, dass sie “voll des heiligen Geistes” werden. Und erst Menschen, die vom göttlichen Geist erfüllt sind, können an den Christus glauben. Andersherum gilt aber auch, dass der Glaube an den Christus Voraussetzung dafür ist, dass Gott die Menschen mit dem göttlichen Geist erfüllt. So ein klassisches Paradoxon deutet die mystische Tiefe dessen an, was es für Paulus bedeutet, an den Christus zu glauben.

Der göttliche Geist verleiht den Menschen neben der Fähigkeit zu glauben weitere Eigenschaften: Die Fähigkeit, Wunder zu erkennen, in Zungen zu sprechen, und prophetisch zu reden – also eigentlich weitere mystische Attribute.
Interessant in diesem mystischen Sinne ist auch Paulus berühmte Aussage “Was nun aber bleibt (bis es soweit ist), sind Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei. Aber am größten von ihnen ist die Liebe.” (1. Korinther 13,13) Mystische Qualitäten bekommt diese Auffassung der Liebe (ohne sie ist selbst der von Gott gegebene Glaube nichts), weil Paulus sie selber zumindest im Kapitel 13 des Korintherbriefs nicht als göttliche sondern als menschliche Eigenschaft deutet. Es ist also Menschlichkeit (natürlich nichts weniger als das Wichtigste im Menschen), die die göttlichen Gaben erst wirksam werden lässt.

Weniger mystisch sondern eher philosophisch ist die Feststellung des Paulus, dass der Glaube an den Christus auch die Grundlage für Vernunft und Ethik ist. Diese im späteren Römerbrief entwickelte Vorstellung wird aber nicht näher ausgeführt und ist wohl als Imperativ zu deuten: Jene Ethiken und Philosophien, die nicht den Glauben an den Christus als Fluchtpunkt haben, sind wertlos.

Im Glauben an den Christus vollzieht sich im Menschen, vermittelt durch den göttlichen Geist, ein Wandel. Es entsteht ein neuer Mensch. Die alte menschliche Natur, synonym mit Sünde, wird ersetzt durch den göttlichen Geist. Es vollzieht sich also ein psychologischer Wandlungsprozess, dessen Logik lautet: Glaube verändert unter Mithilfe des göttlichen Geistes als Ausdruck der Gnade Gottes die Natur des Menschen so, dass es den Menschen möglich wird, die “Gerechtigkeit des Gesetzes” zu verwirklichen (also die Intention des Gesetzes, und weniger den Buchstaben).

Als Träger des göttlichen Geistes werden die Gläubigen ähnlich Jesu’ zu Kindern Gottes. Und als Kinder Gottes sind sie Miterben des Christus – aber auch Teilhaber seiner Leiden zu Lebzeiten. Da sich die Natur der Gläubigen nur geistig verändert, ist das Befolgen der Gebote Gottes nicht ohne Leiden. Dieses Leiden wird aber erträglich angesichts der Gewissheit des ewigen Lebens, die der Glauben schenkt.

Weil der Glaube an Gott ein psychologisches Prinzip ist, also ein “inneres”, kann keine “äußere” Wirkung den Glauben zerstören. Bzw. sollte eine äußere Wirkung den Glauben zerstören. so war der Glaube im Inneren nicht fest genug, er zerbricht also immer an inneren, nicht an äusseren Widersprüchen. Der Glaube an Gott folgt zudem der Logik der Ausschliessung. Jene die nicht an den Christus glauben, werden denen gegenübergestellt, die an ihn glauben. Hier die, die ewig leben und jetzt leiden, dort jene, die zum Tode kommen. Die Wirksamkeit von Paulus’ Christus-Glauben beruht also zum einen auf einer unbeweisbaren, mystischen Innerlichkeit und zum anderen auf der Überhebung über die ausgeschlossenen Anderen. Eine Doppelstrategie, die sich als sehr wirksam erwiesen hat.

Das einzige äußere Merkmal der Transsubstantion der menschlichen Natur durch den Glauben und die Gnade Gottes ist das Bekenntnis des Gläubigen zu Gott und Christus. Für Paulus ergibt sich aus der Notwendigkeit der Bekenntnis die Pflicht zur Verkündung. Es ist wohl debattierbar, ob man Paulus als Missionar nach heutigem Verständnis sehen kann. Die Verbindung von karitativen Arbeiten und der Verkündung hätte er sicher unterstützt, aber staatliche bzw. institutionelle Zwänge und Gewalt um Menschen zu konvertieren, mit dem Hinweis auf Nächstenliebe Verkündung vs. Überzeugung ebenso sicher abgelehnt.

Besonders, und wahrscheinlich im Rahmen der antiken Welt auch originell, ist Paulus’ Konzentration auf den einzelnen Menschen. Nicht ein durch äußere Merkmale mehr oder weniger objektiv bestimmbares Volk wird laut Paulus der neue Bündnispartner Gottes, sondern eine Gruppe von Menschen, die sich auf Grund innerer Erfahrungen verbunden fühlen, und deren einziges äußeres Merkmal das Bekenntnis zu Gott ist. Diese Priorität der Psychologie über alle Standes-, Volks- und sonstigen Grenzen der antiken Welt hinweg sehe ich als durch das mystische Damaskuserlebnis motivierte psychologische Wende. Im Rahmen seiner ozeanischen Nächstenliebe und der unendlichen Sicherheit in Gott, die aus Paulus’ Briefen sprechen, ist das Konzept sicher revolutionär. Jacob Taubes meint auch, dass mit dem Gesetz, gegen das Paulus anschreibt, nicht nur das talmudische Gesetz sondern auch die pax romanum gemeint sei, und also die Wendung zur Innerlichkeit als direkter, revolutionärer Angriff auf die bestehende Ordnung zu deuten ist. Das Problem beginnt dann, wenn Glauben und Nächstenliebe nicht in so tiefen mystischen Erfahrungen verwurzelt sind, und zusammen mit dem Glauben auch Zweifel kommen. Schuld wird so unversehens zum psychologischen Problem des Einzelnen, dass sich auch nicht an der Übertretung einzelner Gebote festmacht, sondern sich auf Grund einer inneren Unzulänglichkeit – schwankender Glaube oder fehlende Liebe nach Paulus – universalisiert und den Menschen als solchen zum Schuldigen macht.