Gershom Scholems These von der essentiellen Differenz zwischen christlichem und jüdischem Messianismus sondert den Geruch des Dogmas ab. Oder, wie Jacob Taubes sagt:
Ich würde gerne zeigen, dass das von Gershom Scholem präsentierte historische Material [auf das sich og.g These stützt] auch eine andere Lesart gestattet, welche allerdings einen flexibleren theoretischen Bezugsrahmen voraussetzt als den, der seine wissenschaftlichen Bemühungen um ein Verständnis der messianischen Idee im Judentum bestimmt. (J.T. , Der Preis des Messianismus, S. 45)
Nach Scholem nämlich hat das Judentum
in all seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, den es als einen Vorgang auffaßte, welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann. Demgegenüber steht im Christentum eine Auffassung, welche Erlösung als einen Vorgang im geistigen Bereich und im Unsichtbaren begreift, der sich in der Seele, in der Welt jedes einzelnen abspielt und der eine geheime Verwandlung bewirkt, der nichts Äußeres in der Welt entsprechen muss.
(G.S. “Über einige Begriffe des Judentums“, S. 121, zititiert nach J.T. S 29f)
Zu den zentralen Schlußfolgerungen aus dieser Dichotomie gehört für Scholem, dass auch die Sicht auf die Zukunft, denn dort wird der Messias erwartet, entsprechende Unterschiede aufweist. Während im Christentum die Zukunft als Erlösung bekannt ist, und alle Geschichte von der Zukunft her bestimmt ist, so ist im Judentum nach Scholem die Zukunft unbestimmt, aber auf erwartungsvolle Weise, denn jeder zukünftige Moment könnte der Moment der Ankunft des Messias sein.
Soweit ich dieses Thema bisher durchdrungen habe, scheint es Paulus gewesen zu sein, der zuerst die messianische Idee mit einem besonderen Verständnis von Zeit zusammengebracht hat (s. Agamben, Die Zeit die bleibt). Und dass diese Frage, die Frage nach der messianischen Zeit – oder säkularisiert die Frage nach einer Philosophie der Geschichte – bis heute hochaktuell ist, lässt sich daran ablesen, mit welchem Interesse gegenwärtig Benjamins Thesen zu diesem Thema diskutiert werden.
Ohne zu behaupten, alle Implikationen dessen, was “messianische Zeit” ist bzw. sein soll, verstanden zu haben, scheint Scholem (zumindest lt. Taubes) zu behaupten, dass die von ihm konstatierte christliche Wendung des Messianismus zur Innerlichkeit jeden christlichen Messianismus vom Bezug zur Geschichte abschneidet. Jüdischer Messianismus hingegen findet “auf dem Schauplatz der Geschichte”, scheinbar also dort, wo er laut Scholem hingehört, statt.
Dagegen drei Argumente.
Das erste Argument: Christlicher Messianismus, zumal wenn er im Zusammenhang mit der ‘sozialen Frage’ auftritt, hat sich schon häufig als äußerst geschichtswirksam, um nicht zu sagen verheerend, ausgewirkt. Siehe Norman Cohn.
Das zweite Argument: Innerlichkeit ist eine notwendige Transformation von immer dann zwangsweise krisenhaftem Messianismus, wenn er sich vom bloßen Erwarten löst und geschichtswirksam wird. Denn messianistische Erwartungen sind realiter unerfüllbar und nur durch Transposition der Erwartungen in die Innerlichkeit kann der messianistische Impuls überhaupt geschichtswirksam werden. (stark in Anlehnung an J.T.)
Das dritte Argument: Wie erstrebenswert ist der Messianismus eigentlich auf dem Schauplatz der Geschichte? Norman Cohn bringt viele Beispiele eines Fanatismus, dessen Entschlossenheit man vielleicht bewundern kann, dessen exterminatorische Rücksichtslosigkeit aber zutiefst abschreckend ist. Und auch die Parallelen zwischen messianistischen Bewegungen in der Geschichte und dem gegenwärtigen Jihadismus sind nicht gerade geeignet, die messianische Zeit als besonders wünschenswert darzustellen.
Fast scheint es, und ohne das Problem damit abschliessen zu wollen, als sei der atheistische Instinkt, der die theologischen und religiösen Wurzeln des Messianismus sehr argwöhnisch betrachtet, im Recht gewesen. Vielleicht liegt in der Erwartung der Erlösung, sei es vor der Krise auf dem Schauplatz der Geschichte oder nach der Krise in der Innerlichkeit tatsächlich schon das Problem. Denn sowohl bei Erwartung als auch bei Erlösung schwingt eine gespenstische Passivität mit, die wenig geeignet zu sein scheint als Blaupause für eine bessere Zukunft, am wenigsten aber für einen befreiten Menschen.
Peter
lol