Lars Quadfasels angenehm schlussfolgerungsfreies Dossier “Adornos Leninismus” in der jw 21 stellt die immergrüne Frage nach der Rolle der Avantgarde für die Revolution. Bzw., wie Quadfasel ganz richtig kurzschließt, die Frage nach dem Verhältnis von Intellektuellen und Proletariat. Er versucht aber nicht so sehr eine Antwort auf diese Frage zu finden, als vielmehr Adornos Haltung zu dieser Frage freizulegen. Der rote Faden ist ihm Adornos Lenin-Rezeption, die sich, wie er anfangs erläutert, auf nur sehr wenige direkte Zitate stützen kann, und die deshalb um Adornos Kritik an Benjamin (die er z.T. mit Verweis auf Lenin stützte) und einige Ausführungen zu Adornos Musiktheorie (“Revolutionstheorie, das ist in seinen Schriften vor allem Musikphilosophie“) ergänzt werden.

Am ehesten wird Quadfasels eigene Meinung zum Thema in einem parenthetischen Satz spürbar: “Und wirklich kann wohl nur Avantgarde sein, wem das [nämlich sein Avantgarde sein] unheimlich ist.” Im Grunde also folgt Quadfasel Adornos Leninlektüre darin, dass eine Avantgarde nötig sei, sie muss sich selbst bloß ausreichend unsicher, oder unheimlich sein, um “jene spezifische intellektuelle Reaktionsweise – die geistige Distanz” gegenüber “den Entfremdungserfahrungen der Masse” zu wahren.
Ohne den Wert des Aufsatzes schmälern zu wollen, so ist doch auf zweierlei hinzuweisen.

Zum Ersten ist da Quadfasels fehlendes Klassenbewusstsein zu beklagen. Er weisst selbst auf das Verschwinden von selbstbewusster Bourgeoisie und klassenbewusstem Proletariat (“besiegelt“, wie er etwas verharmlosend schreibt, “in der NS-Volksgemeinschaft“) hin, scheint sich aber trotzdem zu was Besserem als dem Proletariat zu zählen. Er identifiziert sich jedenfalls nicht damit, obwohl er ja wohl kaum zur herrschenden Klasse gehört, zumindest nicht vom Zeilengeld, dass ihm die jungle world für seinen Aufsatz zahlt.

Zum Anderen ist da die geradezu unheimliche (und darin drückt sich die intellektuelle Position nach Quadfasel ja aus) Penetranz, mit der die theoretische Null unter den Urvätern des ML und seine Avantgardekonzeption mit schöner Regelmässigkeit ausgerechnet von denen immer wieder neu rezipiert wird, die jeder revolutionären Praxis am fernsten zu stehen scheinen und die die geringsten revolutionären Hoffnungen verbreiten. Ein Beispiel dafür ist neben den Kaderparteien der 68ger auch die intellektuelle anti-deutsche Linke, in deren Diskurs sich Quadfasels Essay einfügt. Es steht zu vermuten, dass gerade das Fehlen einer eigenen revolutionären Praxis es so verführerisch macht, sich beim Praktiker par excellance des Marxismus kompensatorisch zu bedienen. Ein Praktiker, der – wie Quadfasel schreibt – seine Avantgarde-Konzeption nie so recht materialistisch begründete.

Lenin, Adorno und Quadfasels Kommentare demonstrieren vom Kopf auf die Füsse gestellt anschaulich, wie das Verhältnis von Theorie und Praxis zu denken ist. Nämlich das Theorie revolutionäre Praxis kritisieren und reflektieren kann. Praxis aber zu antizipieren, ist theoretisch nur in jenem beschränkten, taktischen Masse möglich, den Quadfasel bei Lenin beschreibt und in dem es um das Identifizieren des revolutionären Hebelpunktes geht.

Praxisferne Theorie ist bestenfalls bedeutungslos, viel häufiger aber – weil sich in ihr hämisch eine fehlende praktische Solidarität äussert – reaktionär. Das Theorie sich von der Praxis entfernen kann und muss, um zu reflektieren und zu kritisieren, ist unbenommen. Um aber relevant und revolutionär zu bleiben, muss sie sich immer wieder mit gegenwärtiger relevanter Praxis kurzschliessen. Theorie, die das nicht unternimmt, rekurriert auf und reflektiert zwangsläufig vergangene und nicht gegenwärtige revolutionäre Praxis.

Ein Beispiel für das Unvermögen deutscher linker intellektueller Theorie ist die Rezeption der Piratenpartei. Die ist ein fraglos problematischer Haufen von Nerds, der in der jungle world ausdauernd scharf kritisiert wird und nicht ein einziges Mal praktische solidarisch unterstützt wurde. Dabei sind die Grundanliegen der Partei – bürgerliche Freiheiten im Internet durchzusetzen und zu bewahren und den Umbau der Gesellschaft zur Informationsgesellschaft mit wirksamer Opposition zu begleiten, durchaus einer solidarischen Praxis wert. (Die Mehrheitsmeinung in der jungle world erweist sich aber gerade in den in diesen Debatten zur Diskussion gestellten Werten, nämlich dem intellektuellen Eigentum, als konservativ. Wohl in der Angst, ihre eigene, kaum über den Existenzminimum entlohnte Arbeit weiter entwertet zu sehen.)

Die Frage nach dem Klassenbewusstsein, die Quadfasel verneint, führt aber vielleicht doch ein bisschen weiter. Denn wenn es auch kein Klassenbewusstsein beim Proletariat mehr gibt, scheint das falsche Bewusstsein, nicht zum Proletariat zu gehören (K-H Roth hatte schon mal darauf hingewiesen) weit verbreitet zu sein. Zum Proletariat zu gehören, so scheint die herrschende Meinung zu sein, bedeutet in erster Linie dumm zu sein. Oder anders ausgedrückt, Klassenzugehörigkeit sei eine Bildungsfrage. In diesem Sinn wird dann “bildungsfern” gerne als Euphemismus für ‘proletarisch’ gebraucht. Dabei ist der Kampf um die gesellschaftliche Aneignung des menschlichen Wissens gerade genau der Schauplatz, auf dem revolutionäre Interventionen am ehesten Aussicht auf Erfolg hätten. Wenn es also gerade einen leninschen Hebelpunkt zu finden gibt, und einen Hebel anzusetzen, dann im Kampf um die Ausgestaltung der Informationsgesellschaft, im Kampf für ein weltweit freies Internet, für Meinungsfreiheit im weitesten Sinne, für die Freiheit von Informationen in jeder Form – als Software, Geheimdienstdossier, Musiktitel oder eben auch journalistischem Text. Auch wenn dieser Kampf, wie Quadfasel so empathisch schreibt “auch für [und vor allem mit] … Menschen [z.B. in der Piratenpartei] vollbracht werden muss, die deformiert und verächtlich, wie sie unter den herrschenden Verhältnissen nun einmal sind, das Glück der befreiten Gesellschaft kaum auch nur verdient haben.”