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Month: November 2008

Norman Cohn und der Messianismus

Norman Cohns Buch “The Pursuit of the Millennium” ist die geschichtliche Darstellung einer Reihe von größeren und kleineren sozialen Bewegungen, denen gemeinsam ist, dass sie ihre Ziele in mehr oder weniger endzeitlichen Begriffen formuliert haben. Cohn schreibt:

This book deals with the milleniarianisms that flourished amongst the rootless poor of western Europe between the eleventh and the sixteenth centuries; and with the circumstances that favored it. But if that is the main theme, it is not the only one. For the poor did not create their own milleniarian faiths, but received them from would-be prophets or would-be messiahs. And these people, many of them former members of the lower clergy, in turn took their ideas from the most diverse sources. … This book examines both how these various bodies of millenarian belief originated and how they were modified in the course of being transmitted to the poor.
(S. 14)

Albrecht Altdorfer: Alexanderschlacht (Kampf Alexanders des Großen gegen Perserkönig Darius) 1529

Albrecht Altdorfer: Alexanderschlacht (Kampf Alexanders des Großen gegen Perserkönig Darius) 1529

Viele, wenn auch nicht alle der beschriebenen Bewegungen haben Klassenkampfcharakter, d.h. sie sind Bewegungen von Armen bis sehr Armen, die sich gegen die herrschende Klasse richten. Cohn verfolgt die These, dass alle – also auch moderne – Bewegungen, die die vollständige Umwälzung der Gesellschaft anstreben, zumindest teilweise endzeitlichen Charakter haben. Und in welcher Art man sich den endzeitlichen Charakter vorstellen muss, wird vielleicht am folgenden Beispiel deutlich:

The self-exaltation of the poor emerges still more clearly from the curious stories, compounded of fact and legend, which are told of the people called ‘Tafurs’. A large part – probably by far the larger part – of the People’s Crusade [in the year 1096] perished on its journey across Europe; but enough survived to form in Syria and Palestine a corps of vagabonds – which is what the mysterious word ‘Tafur’ seems to have meant. Barefoot, shaggy, clad in raggish sackcloth, covered in sores and flith, living on the roots and grass and also at times on the roasted corpses of their enemies, the Tafurs were such a ferocious band that any country the passed through was utterly devastated. Too poor to afford swords and lances, they wielded clubs weighted with lead, pointed sticks, knives, hatchets, shovels, hoes and catapults. When they charged into battle they gnashed their teeth as though they meant to eat their enemies alive as well as dead. …

The Tafurs are shown as having a king, le roi Tafur. He is said to have been a Norman knight who had discarded horse, arms and armour in favour of sackcloth and a scythe. At least in the beginning he was an ascetic for whom poverty had all the mystical value which it was to possess for St. Francis and his disciples. …

Lindy Annis: Warburg’s Memo

Lindy Annis’ Performance “Warburg’s Memo” (zusammen mit Antonia Baehr und Nicholas Bussmann) ist eine vielschichtige Erzählung über Aby Warburgs Bildatlanten. So wie Aby Warburg mit seinen Bildtafeln einen speziellen Raum zwischen Kunst und Kunstkritik betritt, der solche Unterscheidungen verschwimmen läßt, erzählt Lindy Annis nicht nur über Warburg, sondern sie erzählt auch als Warburg – und in der Performance fließen diese Erzählpositionen ineinander.

Frédéric Gies „Dance (Praticable)“ – Gruppenversion

“Dance (Praticable)- Gruppenversion” ist ein Tanzstück mit 9 Tänzern. Ich habe es am 23.10.08 in den Berliner Sophiensälen gesehen. An diesem Tag war eine der Tänzerinnen erkrankt, also nur acht Personen auf der Bühne. Das Stück dauert ungefähr eine Stunde. Während des ganzen Stückes werden alle Bewegungen und Abläufe von allen Tänzern gemeinsam, wenn auch nicht synchron, durchgeführt. Getanzt wird in der Gruppe, nicht einzeln. Es wird allerdings auch nicht miteinander getanzt, sondern eher nebeneinander.

Dance (Praticable) - Gruppenversion nach einer Partitur von Frédéric Gies

Dance (Praticable) - Gruppenversion nach einer Partitur von Frédéric Gies

So entsteht auf der Bühne eine merkwürdige Gruppe, die als Kollektiv durch das Nebeneinander der Tänzerinnen unwirklich bleibt, die aber durch die gemeinsamen Bewegungen der Tänzer auch nicht ignoriert werden kann. So – wie Yves Mettler im Publikumsgespräch danach bemerkte – oszilliert der Blick zwischen der Gruppe und den einzelnen Tänzerinnen und kann nie so ganz bei dem einen oder dem anderen verharren. Denn auch die einzelnen Tänzer verlangen Aufmerksamkeit. Die Choreographie durchlaufen zwar alle gemeinsam, aber auch sehr individuell: Runde Bewegungen, eckige Bewegungen, tanztrainierte Bewegungen, fließende Bewegungen – jede der Tänzer hat einen eigenen Stil – ihren eigenen Stil, der eher betont als in der Gruppe versteckt wird. Auf die Unterschiede kommt es an.

Aber die Tänzerinnen scheinen sich weder auf die Gruppe noch auf das Publikum zu konzentrieren, sondern vor allem auf sich selbst. Die Choreographie, die sie tanzen, wirkt fast wie die unbeabsichtigte Konsequenz eines Prozesses, der in den Tänzern stattfindet, und den der Zuschauer nicht sieht und nicht sehen kann.

Eine ähnliche innere Konzentration ist der Grund, warum ich Musikerinnen so gerne beim Spielen zuschaue. Gespielt wird für das Publikum, aber die Bewegungen – die eigentliche Performance sozusagen – ist nur Mittel zum Zweck, der darin besteht, Musik zu machen.

Eine solche Zweckmäßigkeit, die sich nicht in sich selbst erschöpft, strahlen auch die Tänzer bei “Dance” aus – und unterscheiden sich darin von allem, was ich bisher auf einer Tanzbühne gesehen habe. Hier wird nicht getanzt, um schön zu tanzen, hier wird getanzt und nebenbei entsteht schöner, energetischer, mitreißender Tanz.

Profanieren – aber wie?

Giorgio Agamben behauptet in seinem Essay ‘Lob der Profanierung‘, im Profanieren läge politisches Potential. Allerdings, so Agamben, sei es sehr schwer geworden, im “spektakulären Kapitalismus” noch zu profanieren. Die Bedeutung profanierenden Handelns ergibt sich aus Agambens Analyse der Religion und daraus, auch den Kapitalismus – im Anschluss an Walter Benjamin – als religiös zu betrachten.

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